Interview zum Thema organisierte Selbsttötungshilfe

Herr Gröhe, Sie unterstützen mit einer Gruppe weiterer Abgeordneter um Lars Castellucci (SPD) einen Gesetzesentwurf zur Suizidbeihilfe. Was sind die Kernpunkte?

Hermann Gröhe: Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit der – von mir bedauerten – Aufhebung der seinerzeit im Deutschen Bundestag nach langer Debatte beschlossenen Strafbarkeit organisierter Selbsttötungshilfe die wahrlich nicht einfache Aufgabe gestellt, im Rahmen dieser Rechtsprechung das uns Mögliche zu tun, um Selbstbestimmung am Lebensende zu schützen. Das Gericht hat dabei ausdrücklich festgehalten, der Staat habe „dafür Sorge zu tragen, dass der Entschluss, begleiteten Suizid zu begehen, tatsächlich auf einem freien Willen beruht.“

Uns geht es in unserem Gesetzesentwurf darum, diese Selbstbestimmung vor fragwürdigem Druck zu schützen. Zugleich wollen wir möglichst gut sicherstellen, dass Menschen, die aufgrund einer plötzlichen Lebenskrise oder einer seelischen Erkrankung nach Selbsttötung rufen, nicht vorschnell in dem Wunsch unterstützt werden, das eigene Leben zu beenden. Es geht also um den Schutz von Leben und Selbstbestimmung!

Ihr Gesetzesentwurf will die Suizidbeihilfe weiterhin im Strafrecht verankern. Warum?

Weil von Angeboten der geschäftsmäßigen Selbsttötungshilfe Gefahren für Selbstbestimmung und Leben – auch durch eine Gewöhnung an die Selbsttötung als normale Form der Lebensbeendigung – ausgehen, sollen sie grundsätzlich strafbar bleiben. Allerdings sollen die Inanspruchnahme solcher Angebote und damit auch diese Angebote selbst dann nicht rechtswidrig sein, wenn eine freiverantwortliche Entscheidung der Selbsttötung zugrunde liegt. Das gibt uns das Verfassungsgericht vor.

Was ist Ihnen an dem Entwurf besonders wichtig?

Uns ist es ganz wichtig, nach Möglichkeit auszuschließen, dass ein Selbsttötungswunsch geschäftsmäßig unterstützt wird, wenn er auf einer seelischen Erkrankung beruht. Denn auch das Bundesverfassungsgericht hat auf internationale Studien Bezug genommen, wonach bei 90 Prozent der Selbsttötungen seelische Erkrankungen vorliegen. Deswegen ist es uns wichtig, zwei verpflichtende psychiatrische Untersuchungen in einem Mindestabstand von drei Monaten vorzusehen.

Gleichzeitig muss nach unserer Vorstellung in einer ebenfalls vorgeschriebenen umfassenden Beratung auf Hilfsangebote hingewiesen werden. Denn die Gründe für einen Selbsttötungswunsch können ganz unterschiedlich sein und reichen etwa von der Familienkrise bis zur Überschuldung, von der Langzeitarbeitslosigkeit bis zur schweren Erkrankung. Deswegen brauchen wir ein Beratungsangebot, das den Selbsttötungswilligen dann Türen öffnet zu der ihnen gerecht werdenden Beratung und Hilfe.

Neben Ihrem Entwurf gibt es noch zwei weitere. Was bemängeln Sie an denen?

 

Die Gesetzesentwürfe von Kolleginnen und Kollegen rund um Renate Künast und Katja Keul beziehungsweise rund um Katrin Helling-Plahr und Karl Lauterbach wollen eine fachärztliche Untersuchung nur im Zweifel oder im Bedarfsfall. Ohne fachärztliches Wissen und Erfahrung besteht aber die große Gefahr, dass seelische Erkrankungen gar nicht erkannt werden.

Bei dem Entwurf Helling-Plahr/Lauterbach kritisiere ich zudem, dass es um eine einmalige Beratung geht, die nach zehn Tagen Frist bereits die Selbsttötungshilfe ermöglichen würde. Fachleute haben uns aber immer wieder darauf hingewiesen, dass die Einschätzung von Selbsttötungswünschen und der seelische Gesundheit mehr Zeit braucht. Eine einmalige Beratung und eine sehr kurze Frist sind doch eher eine bloß formale Hürde, die vor allem eine Ermöglichung der Selbsttötungshilfe im Blick hat.

Aber was ist, wenn diese Zeit fehlt? Etwa, wenn ein Mensch unheilbar krank ist und Schmerzen leidet.

Wenn man – wie dies bei Frau Künast und in unserem Entwurf der Fall ist – zwei oder drei Termine und eine längere Frist vorschreibt, wird man eine Fristverkürzung in den Fällen etwa einer schwersten Erkrankung sehr nahe am Lebensende vorsehen müssen, in denen eine solche Frist unzumutbar ist. Beide Gesetzentwürfe tun dies bei einer deutlich unterschiedlichen rechtlichen Ausgestaltung.

Reicht es nicht aus, den Sterbewunsch in bestimmten definierten Fällen einmalig zu dokumentieren?

Die Feststellung eines freiverantwortlichen Selbsttötungswillens kann nicht unbefristet und damit gleichsam auf Vorrat erfolgen. Denn es soll ja gerade im zeitlichen Zusammenhang mit der Inanspruchnahme einer Selbsttötungshilfe ausgeschlossen werden, dass etwa eine seelische Erkrankung einer selbstbestimmten Entscheidung entgegensteht. Deshalb sehen alle drei Gesetzentwürfe Fristen zwischen der Feststellung des Vorliegens einer freiverantwortlichen Entscheidung und der Inanspruchnahme einer Selbsttötungshilfe vor.

Wie kann aus Ihrer Sicht unterschieden werden zwischen einem Hilferuf und einem ernst gemeinten Suizidwunsch?

Das ist ja gerade die große Herausforderung! Und auch das Verfassungsgericht hat ausgeführt, dass zu einer freiverantwortlichen Entscheidung eine gewisse Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit gehören müssen, dieser Wunsch nicht auf dem Druck einer gewissen Erwartung oder einer seelischen Erkrankung beruhen darf. Deswegen halten wir auch eine zumindest zweimalige Untersuchung, eine umfassende Beratung und einen gewissen zeitlichen Abstand für geboten. Wo immer der Selbsttötungswunsch vor allem ein Hilferuf ist, so nicht weiterleben zu wollen, müssen andere Wege, etwa die schmerzlindernden Möglichkeiten der Palliativmedizin, aufgezeigt werden.

 

Können Einrichtungen – Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime – zur assistierten Suizidbeihilfe verpflichtet werden?

Zunächst sind sich alle einig: Keine Person darf zur Selbsttötungshilfe gezwungen werden! Für unsere Gruppe rund um die Kollegen Castellucci und Heveling ist zugleich klar: Das muss auch für Einrichtungen gelten! Kirchliche Einrichtungen schützt dabei auch das Staatskirchenrecht. Aber ich kenne auch Hospize, die nicht in einer kirchlichen Trägerschaft sind, die eine Selbsttötungshilfe durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbindlich ausschließen wollen. Hier denken wir über eine ausdrückliche rechtliche Klarstellung nach.

Dennoch wird es im Alltag solcher Einrichtungen schwierige Situationen geben. Sie werden etwa den Vortrag eines selbsternannten Sterbehelfers im Gemeinschaftsraum eines Altenheimes untersagen können. Die Besuche ihrer Bewohnerinnen und Bewohner werden sie nicht kontrollieren wollen. Und sie werden wohl auch keinen schwerstkranken und pflegebedürftigen Menschen zum Auszug zwingen wollen, weil er einen ernsthaften Selbsttötungswillen zeigt.

Sie machen sich zudem mit einem weiteren Antrag stark für die Suizidprävention. Wie soll die aus Ihrer Sicht aussehen?

In dem Bemühen, durch vorbeugendes Handeln Selbsttötungen zu verhindern, wurde schon einiges erreicht. In der Zeit nach der Wiedervereinigung hatten wir zunächst jährlich rund 20.000 Selbsttötungen in unserem Land, was vor allem an den hohen Zahlen in der früheren DDR lag. Jetzt sind es unter 9.000 pro Jahr. Aber auch damit wollen wir uns nicht abfinden. Wir brauchen überall im Land umfassende Beratungs- und Hilfsangebote sowie geeignete Therapieplätze ohne lange Wartezeiten.

Und auch bauliche Veränderungen, die etwa an Schienenstrecken und Brücken Selbsttötungen verhindern können, sind weiter voranzutreiben. Schließlich wollen wir Selbsttötungswünsche noch besser verstehen. Als Gesundheitsminister habe ich entsprechende Forschungsvorhaben auf den Weg gebracht, die allerdings aufgrund der Corona-Pandemie bislang nicht abgeschlossen werden konnten. Zudem bin ich davon überzeugt, dass jede und jeder von uns einen Beitrag zu einer achtsamem Gesellschaft leisten kann – und angesichts sich ausbreitender Vereinsamung vieler Menschen auch sollte.

Sie sind nicht nur überzeugter Christdemokrat, sondern auch überzeugter Christ. Wie bewerten Sie die teils unterschiedliche Haltung der beiden Volkskirchen zur Suizidbeihilfe?

Natürlich wünsche auch ich mir, dass die christlichen Kirchen gerade in ethischen Grundsatzfragen gemeinsame Auffassungen vertreten. Gerade in einer Zeit, in der christliche Überzeugungen keineswegs selbstverständlich Gehör finden, ist eine solche Gemeinsamkeit wünschenswert. Andererseits haben oft von der Sache her unterschiedliche Sichtweisen jeweils ihre Berechtigung.

 

Und dann gibt es unterschiedliche Auffassungen eben nicht nur zwischen den Kirchen, sondern auch innerhalb der Kirchen. Das gilt dann auch in der katholischen Kirche, wo ein Lehramt zwar gegebenenfalls entscheiden kann, was die katholische Position ist, dies aber keine Meinungsvielfalt unter den Kirchenmitgliedern ausschließt. Klug ist es dann, das Gemeinsame zu betonen und mit Unterschieden in wechselseitiger Wertschätzung umzugehen. Das nutzt dann auch der Diskussion in unserer Gesellschaft insgesamt. Ich würde mich im Übrigen freuen, wenn die Kirchen wieder vernehmbarer ihre Stimme in wichtigen Fragen für unser Gemeinwesen erheben.

Werden die Kirchen überhaupt noch gehört, wenn sie aufgrund von Mitgliederschwund immer unbedeutender werden?

Ja, sie werden gehört! Aber sie müssen sich heute in größerer Meinungsvielfalt behaupten. Mit guten Argumenten. Mit Gesprächsfähigkeit gerade auch gegenüber Andersdenkenden. Als Christen sollten wir diese Buntheit – als Folge der Freiheit! – nicht bejammern, sondern kraftvoll Farbe bekennen.

Kirchen gewinnen auch gesamtgesellschaftlich Strahlkraft, wo sie ihren Mitgliedern erkennbar Orientierung geben. Da ist nicht nur für den landeskirchlichen Protestantismus mit seiner Stimmenvielfalt eine Herausforderung. Manche Freikirche und religiöse Gemeinschaft bezahlt die eigene Eindeutigkeit mit einem Abgeschottetsein gegenüber der Gesellschaft – und muss nicht selten erleben, dass junge Erwachsene dies als Enge erleben und sich abwenden. Unser christliches Zeugnis braucht das Spannungsverhältnis von Klarheit und Vielfalt, Eindeutigkeit und Weltoffenheit, um einladend zu wirken gegenüber Menschen, die auch jenseits von Kirchenzugehörigkeit nach glaubwürdiger Wertorientierung fragen. Und gerade im Gesundheitswesen sind mir viele solche Menschen begegnet.

 

Für einige Christen stellt eine Abweichung vom absoluten Lebensschutz ein Sakrileg dar. Was würden Sie diesen Menschen bei der Debatte um die Selbsttötungsbeihilfe ins Stammbuch schreiben?

Zunächst gilt für uns im Parlament: Ich achte die Überzeugung von Kolleginnen und Kollegen, die zu keiner dem Verfassungsgerichtsurteil Rechnung tragenden Regelung die Hand reichen wollen, weil natürlich jede regelhafte Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme einer Selbsttötungshilfe die Gefahr in sich trägt, eine Gewöhnung an diese Form der Lebensbeendigung zu befördern. Wer sich aber um der „Reinheit“ der eigenen Überzeugung willen jedem Kompromiss verweigert, befördert unter Umständen die Mehrheitsfähigkeit von Regelungen, die das Gegenteil der eigenen Überzeugung zum Inhalt haben.

Insgesamt ist es meine Überzeugung, dass wir Lebensschutz und Achtung von Würde und Selbstbestimmung zusammen denken müssen. Ein freiheitlicher Staat darf nur in ganz besonderen Ausnahmefällen – etwa bei schweren seelischen Erkrankungen – Menschen mit Zwangsmaßnahmen vor sich selbst schützen. Denn Achtung vor dem Leben und vor der Selbstbestimmung gehören untrennbar zusammen.

Im Zusammenhang mit der Verhinderung von Selbsttötungen gilt im Übrigen, dass wir Selbsttötungswillige nicht erreichen, wenn wir entsprechenden Äußerungen nur mit Verdammnisurteilen begegnen. Deshalb lehne ich auch den Begriff Selbstmord ab – Selbsttötung geschieht nicht aus niedrigen Beweggründen. Wenn Menschen mit einem Selbsttötungswunsch nur auf Belehrung und Herabsetzung stoßen, schweigen sie und verschließen sich. Und nachher fragt sich das Umfeld, warum man nichts geahnt hat. Menschen in Verzweiflung brauchen nicht den erhobenen Zeigefinger, sondern die ausgestreckte Hand, nicht das steile Bekenntnis, sondern ein offenes Ohr und ein offenes Herz.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview in voller Länge finden Sie auch hier.